• Aus der Ursprungszeit des Klosters Lorsch sind kaum Bauten erhalten: Dazu zählt die berühmte Tor- oder Königshalle © Hanns Joosten

  • August Lucas, Ansicht des Klosters Lorsch, um 1859, Öl auf Leinwand - Zustand der Klosteranlage, als die „Engelsage“ um Tassilo blühte. Es fehlt der linke Treppenturm zur Königshalle © Kulturstiftung des Hauses Hessen

  • Rückwärtige Ansicht der Torhalle inmitten großzügiger moderner Raumplanung © Hanns Joosten

  • Detailansicht der Torhalle mit ornamentiertem Mauerwerk © VSG

Spannen wir einen Bogen vom Anfang hessischer Denkmalpflege bis heute: Als das 18. Jahrhundert zu Ende ging, verkannte man den Wert der Königshalle von Lorsch und wollte sie für Baumaterial abbrechen. Zum Glück kam es anders – nur knapp entrann eines der wenigen Exemplare karolingischer Architektur der Zerstörung. Heute ist der frühmittelalterliche Bau Teil des „Weltkulturerbes Kloster Lorsch“ und wird aufregend frisch präsentiert. Im bestmöglichen Erhaltungszustand steht der Überrest einer mächtigen Benediktinerabtei im Zentrum eines neuen Raumerlebnisses. Es war immer schwierig, den im 8. Jahrhundert gegründeten, größtenteils verschwundenen Komplex anschaulich zu vermitteln. Seit 2015 hilft eine landschaftsarchitektonische Neuerfindung unserer Phantasie auf die Sprünge. Dort, wo Gebäude existierten – Kirche, Klausur und Kreuzgang – wurden die Bodenlevel gesenkt oder erhöht. Kantige Abstufungen durchziehen jetzt das Gelände und Rasen bedeckt es durchgehend. Was Besucher hier vorfinden, ist die szenographische Nacherzählung von Kulturgeschichte. Dass es die Torhalle noch gibt, ist Ludewig I. (1753-1830) zu danken. In einem frühen Akt von Denkmalpflege verbot der Landgraf von Hessen-Darmstadt und späterer Großherzog sie abzutragen. Ein romantischer Impuls: Als oberster Kulturpolitiker seines Landes war er überzeugt, „dass die noch vorhandenen Denkmäler der Baukunst zu den wichtigsten und interessantesten Urkunden der Geschichte gehören“. So ließ er es in eine Verordnung von 1818 schreiben, die 1902 im ersten modernen deutschen Denkmalschutzgesetz aufging.

Referenzen:

Meister der Pollinger Tafeln, Herzog Tassilo reitet zur Jagd, um 1440, Tafelbild, Flügelinnenseite des Kreuz-Altars der Augustiner-Stiftskirche in Polling (Ausschnitt)
© bpk, Bayerische Staatsgemäldesammlungen - Alte Pinakothek

Das Kloster und die Tassilo-Legende
Ruht der Staub des letzten Agilolfingers Tassilo im Staub des Klosters Lorsch? Die Legende will es so. Mehrfach griffen spätromantische Sagenbücher das Schicksal Tassilos III. auf und verknüpften es mit der heutigen UNESCO-Welterbestätte im gleichnamigen Ort. Der frühere Bajuwaren-Herzog soll dort als Mönch so fromm gewesen sein, dass ihm selbst die Engel dienten. So viel ist wahr: Nach Eidesbruch und Verrat an Karl dem Großen war jener in Ungnade gefallen: 788 machte man ihm den Prozess, wandelte das Todesurteil allerdings in Klosterverbannung um. Eine Blendung seiner Augen ist dagegen erfunden, doch daraus sponn sich die „Engelsage“: Jahre später soll Tassilo Kaiser Karl bei einem Besuch des Reichsklosters als blinder Greis erschienen sein, den Himmelsgeschöpfe führten. „Ein Engel Gottes ist’s fürwahr, / Der sanft des Alten Schritte leitet“, textete der Lokalpatriot Albert Ludewig Grimm in einer Ballade. Erst nach einem Kniefall, mit dem der einstige Empörer vor Karl Abbitte leistete, wurde er erlöst und starb. Ein in Quellen bezeugtes, aber heute verschwundenes Grabdenkmal mit der Inschrift „Tassilo, erst Herzog, später König, doch zuletzt Mönch …“ sollte sein Leben und Sterben in Lorsch belegen. Bewiesen ist es keinesfalls.
Albert Ludewig Grimm
"Vorzeit und Gegenwart an der Bergstraße"
Albert Ludewig Grimm (1786-1872) war mit Jacob Grimm, dem Märchensammler und Germanisten, nicht verwandt. Doch war er ihm ein Bruder im Geiste. Getreulich hielt er sich an dessen 1808 veröffentlichte „Gedanken, wie sich die Sagen zur Poesie und Geschichte verhalten“ und an die Auffassung von der „anderen Wahrheit“. Diese stecke in Volkssagen und bereichere die sich aus Urkunden, Diplomen und Chroniken zusammengesetzte Historie um erzählte Traditionen. Ein Beispiel ist Albert Ludewig Grimms „Vorzeit und Gegenwart an der Bergstrasse, dem Neckar und im Odenwald“ (1822): Ein Reiseführer voll ernster und genießender Heimatliebe, in dem Geschichte wie Geschichten erzählt werden, als sei der in Weinheim geborene Autor selbst dabei gewesen. Dafür hatte Grimm auch darauf gelauscht, „was mir von alten Sagen und frommen Legenden aus grauer gläubiger Vorzeit herüber klang“. Darunter war das in Volkes Phantasie ausgemalte Ende Tassilos III. Quellen zufolge büßte der Bayern-Herzog im Kloster Lorsch eine große Schuld gegen Karl den Großen ab. Die darauf aufbauende Legende vom blinden, gottesfürchtigen, als Mönch inkognito lebenden Tassilo sei „zu poetisch, als daß wir sie unseren Lesern anders, denn im angemessenen Gewande, mittheilen möchten“: Es folgt Grimms eigene Dichtung „Thassilo in Lorsch“ – eine Adaption der „Engelsage“.

Matthäus Merian d. Ä., Kloster Lorsch, 1615, kolorierter Kupferstich
1556 war Lorsch von den Pfälzer Kurfürsten, in deren Besitz es gelangt war, aufgehoben worden. In der Folge riss man Teile des Klosters ab. Merians Stich dokumentiert noch einen erhaltenen Kirchenbau, der 1621 unter den Verwüstungen des 30jährigen Krieges verschwand.

© www.lagis-hessen.de

Sagen und Geschichte
„Sagen“, formulierte Jacob Grimm 1808, „sind grünes Holz, frisches Gewässer und reiner Laut entgegen der Dürre, Lauheit und Verwirrung unserer Geschichte“. In seinem Aufsatz „Gedanken, wie sich die Sagen zur Poesie und Geschichte verhalten“, als auch im Vorwort zum ersten Band der „Deutschen Sagen“ (1816), mühte sich der Sprach- und Literaturforscher Grimm, ihren Stellenwert als Vermittler der Vorzeiten aufzubessern. Da kritische Historiographie sie verächtlich betrachtete, setzte Grimm ihr eine romantische Ausdeutung von Wahrheit und Geschichte gegenüber: Sagen bewahrten als volksmäßige Naturdichtungen die Historie lebenshaltiger und historisch dauerwertiger. Sie seien dem Volk, welches mehr an eingegerbten Traditionen als an wirklich Geschehenem hafte, eine „wohltätige Begleitung“. Zumal die Nachrücker aus zeitlicher Ferne im Ganzen das innerste Leben enthielten. Zwar mischten sie sinnlich Natürliches und Begreifliches mit Unbegreiflichem, aber: „… es ist Wahrheit in ihnen, ob auch die Sicherheit abgeht.“ Bei allem Pochen auf „Urkunden, Diplomen und Chroniken“ seien Historiker gut beraten, diese stille Stimme wahrzunehmen. Der Sagenschatz berge in sich, dass Geschichte nichts anderes tun sollte, als das Herrliche und Große und seinen Sieg über das Schlechte und Unrechte zu bewahren.
Kloster Lorsch - UNESCO Welterbestätte
Der Bund, das Land Hessen und die Stadt Lorsch haben 12,1 Millionen Euro in den Aus- und Umbau der auf das 8. Jahrhundert zurückreichenden Klosteranlage investiert. Anlass war das 1250jährige Bestehen der Abtei im Jahr 2014. Lorsch stieg unter Karl dem Großen zu einem mächtigen Reichskloster auf und ergänzt seit 1991 die Liste der UNESCO-Welterbestätten: In der Funktion eines Kulturzentrums verband es die Traditionen der Antike mit dem Mittelalter und trieb die Bildungsreform Karls voran. Zur Blütezeit lebten rund 100 Benediktiner-Mönche im Kloster - früher Laurisham genannt. Sein Scriptorium und die Bibliothek zählten damals zu den größten. Von der einst weitläufigen Anlage mit zahlreichen Gebäuden ist neben den Resten der 774 geweihten, romanischen Kirche und von den Umfassungsmauern die Tor- oder Königshalle aus dem 9. Jahrhundert erhalten geblieben. Dieser Bau gilt heute als die am besten erhaltene karolingische Architektur nördlich der Alpen.